Interview mit Dr. Anne Kühn – Zwei Jahre Kampf gegen Corona
(sh – 1.3.22) Als am Abend des 27. Februar 2020 das Uniklinikum Heidelberg die grippeähnlichen Symptome eines Oftersheimer Skiurlaubers als Infektion mit dem damals neuartigen Virus SARS-CoV-2 bestätigt hatte, stand fest: Der Rhein-Neckar-Kreis hatte seinen ersten Corona-Fall. Im Gesundheitsamt, das auch für die Stadt Heidelberg zuständig ist, hatte man sich seinerzeit schon einige Wochen vorher auf das drohende Szenario eingerichtet und einen Stab einberufen. In diesem wurden die ersten Schritte im Umgang mit einer Pandemie vorbereitet – so war zum Beispiel bereits eine Corona-Hotline für Bürgerinnen und Bürger geschaltet worden. Seit zwei Jahren arbeitet Dr. Anne Kühn im Gesundheitsamt an vorderster Front gegen die Pandemie. Im Interview blickt sie auf Herausforderungen und Enttäuschungen, aber auch auf positive Erlebnisse im Zusammenhang mit Corona zurück.
Frau Dr. Kühn, können Sie sich noch daran erinnern, wann Sie das erste Mal von SARS-CoV-2 gehört haben und was Sie damals dachten?
Dr. Anne Kühn: Ich war im Januar 2020 auf einer Facharzt-Fortbildung und habe mich im Kollegenkreis über dieses neuartige Coronavirus unterhalten. Damals war noch überhaupt nicht klar, wie gefährlich es ist, zumal wir auch nur über die Medien darüber erfahren haben. Im Amt selbst war für mich Corona das erste Mal ein Thema, als der erste Fall im Rhein-Neckar-Kreis auftauchte, also am 27. Februar.
Wann war klar, welche Herkules-Aufgabe dem Gesundheitsamt bevorsteht?
Kühn: Der damals im Gesundheitsamt für Corona zuständige Kollege, Dr. Andreas Welker, berichtete mir just vom ersten Fall, als ich mich wegen einer Fortbildung und dem geplanten anschließenden Urlaub verabschieden wollte. Wir entschieden gemeinsam, dass ich den Kurs absage und im ersten Fall unterstütze. Ja, und dann sind mein Mann und die Kinder in Urlaub gefahren und ich habe mich fortan um Corona gekümmert! Nach dem ersten Fall mit den Kontaktpersonen und den folgenden Fällen war schnell klar, dass diese Aufgabe mit den üblichen Methoden nicht bewältigt werden konnte und wir elektronische Unterstützung benötigen. So hat unsere IT in sehr kurzer Zeit unsere C19-Datenbank programmiert, die bis heute die Basis der täglichen Ermittlungen ist und die ständig erweitert wird.
War Ihnen auch gleich die zeitliche Dimension der Corona-Pandemie bewusst?
Kühn: Ich gestehe, dass ich nach der ersten Welle im Jahr 2020, als die Zahlen nach Ostern wieder deutlich gesunken waren, gedachte hatte, dass wir das Schlimmste überstanden haben. Das erste Lernen, dass dem nicht so war, kam dann im Herbst desselben Jahres. Nach dem Winter 2020/21 habe ich dann gedacht, dass es ein hartes Jahr war – aber durch die beginnende Impfkampagne nun wirklich das baldige Ende der Pandemie erreicht sei. Leider war das wieder ein Trugschluss – es ist eben ein ständiger Lernprozess!
Was waren für das Gesundheitsamt und Sie persönlich in den vergangenen zwei Jahren die größten Herausforderungen?
Kühn: Am Anfang tatsächlich erst einmal zu begreifen, was exponentielles Wachstum eigentlich bedeutet. Wir kannten hier im Gesundheitsamt auch aus Grippezeiten hohe Fallmeldungen – aber das ist gerade in den Hochphasen mit den täglichen Corona-Fallzahlen überhaupt nicht vergleichbar. Daher lautete eine der Herausforderungen: Wie schaffen wir es, diese Entwicklung digital zu begleiten, sodass wir die Pandemie bei uns auch abbilden können? Und natürlich war die sehr kurzfristige Akquise von zusätzlichem Personal sowie die Einbindung der neuen Mitarbeitenden ins Amt herausfordernd.
Hat sich die öffentliche Wahrnehmung der Gesundheitsämter verändert?
Kühn: Ja und Nein. Ich glaube, viele Menschen denken immer noch, dass das Amt relativ langsam und träge ist – einfach weil Vorgaben eine gewisse Zeit brauchen, bis sie umgesetzt werden. Allerdings finde ich, dass die Bedeutung und Wahrnehmung der Dinge, die wir machen – nämlich Gesundheitsschutz, Infektionserkrankungen, Einschulungsuntersuchungen oder die Trinkwasserüberwachung – in der Öffentlichkeit durchaus zugenommen hat.
Welche Enttäuschungen haben Sie in den zwei Corona-Jahren erlebt?
Kühn: Zum einen natürlich die enttäuschte Hoffnung, dass sich durch die Impfungen die Pandemie quasi von selbst auflösen würde. Das ist eigentlich meine größte Enttäuschung: Dass wir es trotz aller Bemühungen bis heute nicht geschafft haben, eine adäquate Durchimpfung der Bevölkerung zu erreichen. Ich habe großen Respekt vor der individuellen Impfentscheidung, aber ich muss gestehen: Ich bin ein wenig enttäuscht, dass es doch so viele Menschen gibt, die das eigene persönliche Empfinden über das Gemeinwohl stellen. Das hätte ich vor der Pandemie vermutlich anders eingeschätzt. Ansonsten erreicht uns als Amt natürlich viel Frust von außen – teilweise nachvollziehbar aufgrund der vielen wechselnden Vorgaben oder aufgrund der Tatsache, dass wir wegen der schieren Masse nicht immer auf individuelle Wünsche oder Umstände einzelner Fälle eingehen können. Aber es trifft Sie nach einem harten Arbeitstag manchmal doch, wenn Sie jemand am Telefon persönlich für etwas verantwortlich macht.
Wieviel nimmt man denn eigentlich als Privatperson mit nach Hause, wenn man seit zwei Jahren quasi an der Front gegen die Pandemie kämpft?
Kühn: Die Frage ist ja, wieviel Corona kann man denn aus dem privaten Umfeld überhaupt raushalten. Mein Mann arbeitet auf einer Intensivstation, wir leben mit drei Generationen in einem Haus zusammen – da ist Corona ganz unabhängig von meinem Beruf im Privaten bestimmend. Aber natürlich kann man sich nicht so intensiv und ausschließlich mit solch einem Thema beschäftigen, ohne dass es Einzug ins Private hält. Corona bestimmt die Gespräche am Abendbrottisch und manchmal die Gedanken abends vor dem Einschlafen. Ich versuche mir bewusst Freiräume zu schaffen, in denen ich abschalten kann. Und wir sprechen hier im Team manchmal auch über private Dinge, die nichts mit Corona zu tun haben – das muss bei einem 12 bis 14-Stunden-Arbeitstag auch mal sein. Wie anstrengend gerade die Hochphasen der Pandemie sind, merke ich erst, wenn sie zu Ende sind und ich endlich mal wieder durchatmen kann.
Gibt es auch positive Erlebnisse und Erinnerungen?
Kühn: Sehr viele! Zum einen natürlich die vielen Personen, die gekommen sind, um zu unterstützen – sei es ehrenamtlich oder im Rahmen einer Anstellung. Es hat mich wirklich begeistert, wieviele Menschen kamen, die sagten: Ich will helfen, was kann ich tun? Zum anderen gibt es viele Begebenheiten wie etwa Personen, die sich nach einem Gespräch für die Erklärung bedanken und sagen: Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Wir haben auch ein paar nette Briefe bekommen, in denen Personen uns geschrieben haben, dass es ihnen nach einer Infektion wieder gutgeht. Als sehr positiv empfinde ich zudem die Zusammenarbeit innerhalb des Landratsamts.
Seit kurzem wurde die Marke von 100.000 Fällen innerhalb Ihres Zuständigkeitsbereichs übertroffen – wie bewerten Sie diese Zahl?
Kühn: Es ist eine erschreckende Zahl. Es ist ein Bereich – genau wie etwa die durch Corona verursachten Kosten –, der eigentlich nicht mehr begreifbar ist. Aber die ersten zehn Fälle kenne ich alle noch mit Namen, auch nach zwei Jahren noch. Ansonsten hat man zu so einer riesigen Zahl keinen Bezug mehr.
Auf welche Leistungen des Gesundheitsamts sind Sie besonders stolz?
Kühn: Auf das gesamte Team! Darauf, dass sich hier ganz viele Leute auch außerhalb ihrer Kernaufgaben auf neue Bereiche eingelassen und sich darin eingearbeitet haben. Und darauf, dass wir es weiterhin schaffen – auch mit Hilfe von Schokolade – die Stimmung hochzuhalten.
Wie schaffen Sie es, tagtäglich Ihre Kolleginnen und Kollegen aufs Neue zu motivieren?
Kühn: Ich habe das große Glück, dass ich gar nicht so wahnsinnig viel motivieren muss, weil das Team an sich schon intrinsisch motiviert ist. Meine Tür steht zudem immer offen, sodass Probleme schnell und auf flacher Hierarchieebene besprochen werden können. Ich denke, das hilft sehr, wenn die Mitarbeitenden wissen, dass sie auch mit Kleinigkeiten zu mir kommen können.
Können Sie uns Ihren typischen „Corona-Arbeitstag“ schildern?
Kühn: Das Typische ist, dass jeder Tag unterschiedlich ist! Ich schaue morgens, bevor meine Kinder wachgeworden sind, in meine E-Mails, was über Nacht an neuen Fällen oder Vorgaben reingekommen ist, und gebe schon mal Rückmeldung. Dann nehme ich mir ganz bewusst etwas Zeit für die Kinder, frühstücke mit ihnen und bringe sie in die Schule und den Kindergarten, ehe es ins Amt geht. Dort wartet als erstes die tägliche Stabssitzung des Gesundheitsamts: Was ist passiert, welche relevanten Dinge stehen an? Gibt es irgendwo einen besonderen Ausbruch? Danach verläuft der Tag tatsächlich immer anders: Ich habe viele Besprechungen mit anderen Ämtern oder Kolleginnen und Kollegen – und dann gibt es natürlich auch immer das eine oder andere Problem zu lösen, Personalfragen müssen besprochen und Entscheidungen gefällt werden.
Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn von höherer Stelle, also von Bund oder Land, kurzfristig neue Regelungen verkündet werden, die das Gesundheitsamt umsetzen muss?
Kühn: Ich bin ganz ehrlich – der erste Impuls ist häufig: „Och nö, muss das sein?“ Aber dadurch, dass wir in sehr engem Austausch mit den Regierungspräsidien, Ministerien und anderen Gesundheitsämtern stehen, hat man auch ein gewisses Verständnis für die Zwänge, denen andere manchmal unterliegen. Wir wissen schon, dass gerade die kurzfristigen Verkündungen nicht dazu gedacht sind, die Gesundheitsämter zu ärgern, sondern der Reaktion auf sich verändernde Situationen oder auch der Politik geschuldet sind.
Ihr Vorgänger, Dr. Andreas Welker, der mittlerweile ins Sozialministerium gewechselt ist, hat gleich zu Beginn gesagt: „Corona ist kein Sprint, das wird ein Marathon.“ Wann und wie kann dieser Marathon enden?
Kühn: Tatsächlich hängt es von mehreren Faktoren ab. Wenn die Entwicklung so weiterverläuft, bin ich zuversichtlich, dass wir einen ruhigen Sommer haben. Wir werden uns im Herbst allerdings erneut mit Corona auseinandersetzen müssen – unter welchen Umständen und mit welchen Vorgaben wird man sehen. Allerdings hat uns das Virus in der Vergangenheit schon gezeigt, dass es die eine oder andere Variantenüberraschung in petto hat. Und das kann alle Prognosen ganz schnell wieder ändern. Im Moment bin ich aber guter Dinge, dass wir – um auf die Frage zurückzukommen – auf den letzten Kilometern sind. Die Ziellinie ist fast schon in Sicht, jetzt gilt es, nicht aufzugeben und durchzuhalten!
Zur Person: Dr. Anne Kühn (43 Jahre) arbeitet seit Dezember 2016 im Gesundheitsamt des Rhein-Neckar-Kreises, nachdem sie zuvor mehrere Jahre in einer großen Klinik in der Anästhesie und auf der Chirurgischen Intensivstation tätig war. Im Gesundheitsamt ist sie für den Gesundheits- und Infektionsschutz zuständig; nach dem Weggang von Dr. Andreas Welker (zum Sozialministerium Baden-Württemberg) ist sie seit dem 1. Juni 2021 auch stellvertretende Amtsleiterin.
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