Die Geschichte der Gemeinschaftsschule in Leimen – Von Dr. Ewald Keßler
Der nachfolgende Artikel von Herrn Dr. Ewald Keßler wird demnächst im aktuellen Jahrbuch für badische Kirchen- und Religionsgeschichte, Verlag Kohlhammer Stuttgart, S. 255-259 veröffentlicht.
(Vortrag von Ewald Keßler im Januar 2019) Im Zug der Schulreform der 1860er Jahre erließ die Regierung des Großherzogtums Baden am 8. März 1868 ein „Gesetz den Elementarunterricht betreffend“,1 mit dem die freiwillige Vereinigung der örtlichen Konfessionsschulen zu konfessionell gemischten Gemeinschaftsschulen geregelt wurde. Die Schulreform wurde von den badischen Protestanten begrüßt, während der Freiburger Erzbischof sie mit seinen konservativen Gefolgsleuten, den „Ultramontanen“ bzw. „Klerikalen“ bekämpfte. Liberale Katholiken befürworteten die Reform. Leimen gehörte zu den ersten Gemeinden, die eine Gemeinschaftsschule einführten. Hier waren die Umstände dafür besonders günstig.
Seit 1837 war die politische Gemeinde von der vorgesetzten Behörde aufgefordert worden, das katholische Schulhaus neu zu bauen. Das gab 1841 den Anstoß zum Kauf des Seligmannschen Hauses, in dem „a) sämmliche Schulen, b) die Lehrer mit ihren Wohnbedürfnissen und c) die Gemeinde mit Versammlungs-Zimmer und Registratur“ untergebracht wurden.2 Die Amtsräume der Gemeinde wurde hauptsächlich im Ostteil des ersten Stockes untergebracht. Im Erdgeschoss fanden zwei Schulräume Platz und in den restlichen Räumen wurden Lehrerwohnungen eingerichtet.3 Das Zusammenleben von Lehrern und Schülern unter einem Dach hatte im Lauf der nächsten zweieinhalb Jahrzehnte offenbar zur Folge, dass gegenseitige konfessionelle Vorurteile abgebaut wurden.
Nachdem der Gemeinderat von Leimen die Vereinigung der protestantischen und der katholischen Konfessionsschulen beantragt hatte setzte das Bezirksamt Heidelberg am 1. Juli 1868 die Abstimmung darüber in den beiden Schulgemeinden auf den 9. Juli 1868 fest. Die Protestanten – bei denen die Zustimmung zur Vereinigung der beiden Schulen von vorneherein klar war – sollten vormittags von 9-1 Uhr, die Katholiken nachmittags von 3-5 Uhr ihre Stimme abgeben.
Zur Abstimmung berechtigt waren „die in den Listen der bei der Wahl des betreffenden Ortsschulraths stimmberechtigten Ortseinwohner eingetragenen Wahlberechtigten“. Sie mussten „jedenfalls 4 Tage vor der Abstimmung“ persönlich eingeladen werden. Außerdem hatte die Einladung „auch in der in der Gemeinde üblichen Art der Verkündigung öffentl. zu geschehen.“4 Die Gemeinde hatte 1869 insgesamt 1680 Einwohner (1371 Evangelische, 269 Katholiken, 9 Mennoniten und 31 Juden); das Bürgerrecht hatten 323 Einwohner, dazu kamen 36 auswärtige Bürger.5 Die Zahl der Schulkinder schwankte um 290, das Schulgeld betrug 1 fl, 12 x.6
Offenbar hatten viele konservative Katholiken entsprechend der Weisung des Erzbischofs, der die Teilnahme an den Wahlen der Ortschulräte verboten hatte, sich gar nicht in die Wählerlisten für die Ortsschulräte eintragen lassen. So setzten sich bei den Katholiken am 9. Juli mit der knappen Mehrheit von 20:21 Stimmen die Befürworter der Gemeinschaftsschule durch.7 Die liberale „Heidelberger Zeitung“ kommentierte: „Ehre dem dortigen Herrn Bürgermeister8, der, durch die viele Mühe, die er anwandte dieses Resultat bezweckte und dadurch ein ehrendes Beispiel der Toleranz gab.“9 Der „Pfälzer Bote“ meldete später, es war „vornehmlich der katholische Hauptlehrer Moritz Pfeifer, der für die Mischschule warb und noch am Wahltage auf der Treppe des Wahllokals gestanden und die katholischen Bürger dazu geworben haben soll, ihrem Glauben und ihrer Kirche ins Gesicht zu schlagen“.10 Der Oberschulrat in Karlsruhe genehmigte am 17. Juli 1868 die Errichtung der Gemeinsaftsschule.11
Vielleicht aufgeschreckt durch die Meldung des ultramontanen „Pfälzer Boten“ vom 16. Juli 1868 über den Ausgang der Abstimmung fühlten sich 25 katholische Ortsbürger „in ihrem Gewissen verpflichtet, gegen die […] Abstimmung […] Einsprache zu erheben“. Unter dem 18. Juli 1868 verlangten sie vom Oberschulrat in Karlsruhe „für die katholische Gemeinde ein[e] zweite Abstimmung“. Zur Begründung führten sie an, dass (1) die Wahlzettel „den Leuten auf den Gassen und im Schulhause etc. aufgedrängt wurden“, (2) bei den Protestanten anfangs ledige Leute abstimmen konnten, (3) ein „Schuhmacher katholischer Religion wurde zur Abstimmung zugelassen, ungeachtet derselbe eine viermonatliche Kreisgefänißstrafe zu erstehen hatte“, (4) ein Bürger, der am 20. Februar 1868 geheiratet hatte, sei zurückgewiesen worden, während ein Landwirt, der erst am 28. Mai 1868 geheiratet hatte, abstimmen durfte, (5) das Abstimmungsdatum sei nicht allen rechtzeitig angesagt worden, (6) „wurden die Leute irrig belehrt“, dass ein neues Schulhaus gebaut und ein weiterer Lehrer angestellt werden müsse. Schließlich wurde „die Abstimmung in die Tage der Erndte verlegt, so daß nicht alle Bürger sich daran betheiligen konnten.“12
Der Karlsruher Oberschulrat reichte am 28. Juli 1868 die Eingabe an das Bezirksamt Heidelberg weiter „als zur dortseitigen Erledigung sich eignend“.13 Das Bezirksamt stellte am 1. August 1868 fest, dass die Punkte (1), (3) und (6) „völlig unerheblich“ seien, dass die „ordnungsgemäße Vorladung der Abstimmungsberechtigten in den Akten bescheinigt“ (5) sei und die „öffentliche Vorladung sich aus der Heidelberger Zeitung No. 158“ ergebe. Die Abstimmungslisten (4) seien längere Zeit zur Einsicht aufgelegen, so dass es „jedem, welcher unrechtmäßiger Weise ausgelassen war, freistand, hiergegen Einspruch zu erheben.“ Sollten (2) bei der Abstimmung der Protestanten Ledige teilgenommen haben, so könne nicht angenommen werden, dass das am Ergebnis etwas geändert hätte. So beauftragte das Bezirksamt den Leimener Gemeinderat, „den Antragstellern zu eröffnen, daß auf den von ihnen gestellten Antrag, eine nochmalige Abstimmung für die kathol. Gemeinde über den Antrag des Gemeinderaths auf Vereinigung der beiden Schulstellen anzuordnen, nicht eingegangen werden könne“.14
Postwendend reichten die katholischen Antragsteller eine neue Eingabe beim Oberschulamt ein, in der sie sich veranlasst sahen „besonders hervorzuheben, daß, bevor die Vollzugsverordnung zum Schulgesetz vom 8. März d.J. über die Zeit und Ort der Abstimmung erschienen ist, diese rechtlich nicht stattfinden darf, folglich als ungesetzlich vorgenommen aufzuheben ist“. Sie müssten daher gegen die „übereilte Abstimmung“ protestieren, „wobei sie noch erklären, daß sie ihre Kinder in eine gemischte Schule nicht schicken werden.“ Der Oberschulrat reichte diese Eingabe wie ihre Vorgängerin an das Bezirksamt weiter.15 Das Bezirksamt monierte nun am 28. August 1868 beim Gemeinderat in Leimen, dass die Bekanntmachung der Auslegung der Wählerlisten und der Einladung zur Wahl nicht im Amtsverkündigungsblatt nachgewiesen sei, wie das die Verordnung zu den Wahlen in den Ortsschulrat von 1864 vorsah.16 Doch in der zwei Wochen später erschienen Vollzugsverordnung vom 11. September 186817 wurde das Amtsverkündigungsblatt nicht mehr erwähnt und nur die ortsübliche Bekanntmachung gefordert. Damit war auch dieser Punkt erledigt.
Am 2. Nov. 1868 wurde die Gemeinschaftsschule in Neuenheim18 eröffnet. Im Bericht darüber ließ der „Pfälzer Bote“ seinem Unmut freien Lauf: „In Neuenheim […] hat man die kathol. Kinder in die Mischschule zu Protestanten, Rongeanern19 und sonstigen Christenkindern zusammengethan, und ihnen Allerlei von Humanität, Toleranz und gegenseitiger Achtung, Liebe und Verträglichkeit vordemonstriert […]; wie trefflich bewahrheitet sich da gleich anfangs die seitherige Ansicht der Ultramontanen […], ‚daß die Religion und Religionsausübung durch die Schulreform in Gefahr komme.‘ […] Es haust ja in Neuenheim ein Völkchen, das an der Spitze des Fortschritts stets vorausmarschirte, und Nirgends im badischen Lande übertroffen wird, es sei denn von Leimen, so genannt, weil dort viele Katholiken ächte Leimsieder sind.“20
An die Stelle der bestehenden beiden konfessionellen Ortsschulräte wurde nun ein gemeinschaftlicher Ortsschulrat gewählt. Das Bezirksamt forderte den neuen Ortsschulrat am 18. Dezember 1868 auf, über die finanziellen Verhältnisse der beiden bisherigen konfessionellen Schulen und die neue Gemeinschaftsschule zu berichten und kündigte an, beim Oberschulrat den 1. Januar 1869 als Tag „an welchem die gemeinschaftliche Schule ins Leben treten soll“ vorzuschlagen.21 Am 28. Dezember 1868 wurde dieser Termin, ein Freitag, vom Bezirksamt nochmals bestätigt. Über die Eröffnung der Gemeinschaftsschule in Leimen berichtet der „Pfälzer Bote“ in einer offenbar einseitigen Korrespondenz vom 16. Januar 1869: „Am 4. d.M. ist die Vereinigung der bisherigen Confessionsschule in eine gemischte Schule dahier vollzogen worden. Schon am Sylvesterabend fand eine Vorfeier statt, indem man dem derzeitigen Bürgermeister, dem man (nebst einigen Andern) den Segen der Mischschule verdankt, einen Fackelzug mit Ständchen brachte.22 Am Tage der Eröffnung wurden Bretzeln an die Schuljugend vertheilt, die Kinder weigerten sich jedoch, dieselben anzunehmen.“ Der Berichterstatter meint weiter: „Man hat auswärts keinen Begriff von der Aufregung, die hier allerwärts herrschte, und zur Stunde sind die Gemüther noch sehr verbittert. Fast sämmtliche kathol. Kinder besuchen die Schule in St. Ilgen und nicht wenige Protestanten weigern sich, ihre Kinder in eine Schule zu schicken, wo die Religion zur Seite geschoben wird. Es ist nur zu wünschen, daß diese Opposition nachhaltig bleibt und nicht zur Seite geschoben wird.“ Am Ende heißt es dann, so habe die Gemeinschaftsschule „nicht den Frieden, wie es seiner Zeit den Leuten vordemonstrirt worden ist, wohl aber den Unfrieden und Zwietracht in die Herzen, die Häuser, in die Familien wie in die ganze Gemeinde gebracht.“23
Wie viele Kinder tatsächlich nach St. Ilgen zur Schule gingen, geht aus den Leimener Akten nicht hervor. Es dürften nicht sehr viele gewesen sein, denn offenbar haben einige Eltern, die wohl zum Kreis der protestierenden Katholiken gehörten, im Sommer 1869 ihre Kinder während der Unterrichtszeit zu einem Gottesdienst geschickt, was dem Bezirksamt als „Schulversäumniß“ gemeldet wurde. Das Bezirksamt antwortete darauf dem Bürgermeisteramt Leimen, „daß man unter den vorliegenden Umständen von Bestrafung der Eltern in diesem Fall Umgang nehmen wolle, daß man aber das Anhalten der Kinder von Seiten der Eltern zum Zuwiderhandeln gegen die Anordnung des Lehrers auf das entschiedenste mißbilligen müsse und daß man im Wiederholungsfall zum strengsten Einschreiten gegen die Eltern sich veranlaßt sehen würde.“ In Zukunft solle „in solchen Fällen“ durch den Ortsschulrat24 „selbst, nicht durch den Lehrer allein, die Frage wann und in wie weit der Kirchenbesuch den Schulkindern zu gestatten bzw. aufzugeben sei, genau“ geregelt werden.25
Die Mitbestimmung der Gemeinden über den Charakter ihrer örtlichen Volksschulen hatte schon nach wenigen Jahren ein Ende als mit dem Gesetz vom 18. September 1876 lapidar bestimmt wurde: „Der Unterricht in der Volksschule wird sämmtlichen schulpflichtigen Kindern gemeinschaftlich ertheilt, mit Ausnahme des Religionsunterrichts, soferne die Kinder verschiedenen religiösen Bekenntnissen angehören.“26 Diese Regelung gilt bis heute. Leimen kann für sich in Anspruch nehmen, schon im 19. Jahrhundert mit an der Spitze einer Bewegung gestanden zu haben, die, hier mit dem gemeinsamen Schulbesuch, dem Abbau von Vorurteilen zwischen religiösen Bekenntnissen dient und im 20. Jahrhundert den Namen „Ökumenische Bewegung“ bekam.
1 Großherzog Badisches Regierungs-Blatt Nr. XV vom 13. März 1868; s.a. Ewald Keßler, Das badische Schulgesetz von 1864, in: Jahrbuch für badische Kirchen- und Religionsgeschichte, 8.-9. Band, Stuttgart 2016, S. 65-78.
2 Stadtarchiv Leimen (StAL) AB 743, Die bauliche Unterhaltung des Schulhauses sammt Zubehörde 1830-1903, fol. 6, Bericht vom 21. März 1841; s.a. Georg Ludwig Menzer, Beiträge zur Ortsgeschichte von Leimen, Mannheim 1949, S. 113-114.
3 Menzer, Leimen, S. 114, Menzer zählt das ebenerdige Geschoss als „ersten Stock“, s.a. Berno Müller, Der Kirchturm ist dem Himmel nahe, Eigenverlag Kath. Pfarrgemeinde Herz-Jesu Leimen 2005, Bd. II, S. 101-102.
4 StAL AB 744, Staatsbeiträge zu den Gehältern der Volksschullehrer 1838-1887, Nr. 19 und 20; hier waren nur verheiratete oder verwitwete Männer wahlberechtigt.
5 StAL R 218, S. 5, §§ 7-8.
6 StAL AB 744, fol. 43.
7 Pfälzer Bote, No. 83, 16. Juli 1868, S. 326 und No. 87, 25. Juli 1868, S. 339, Korrespondenzen aus Bruchsal vom 12. und 23. Juli 1868; s.a. StAL AB 744, Nr. 21.
8 Heinrich Seitz (27. Aug. 1788-Juli 1885), Bürgermeister 1845-1876.
9 Heidelberger Zeitung, No. 162, 12. Juli 1868, 2. Seite.
10 Pfälzer Bote, No. 12, 28. Januar 1869, S. 44; Berno Müller, Leimen, Bd. 1, schreibt S. 257: „Während von Heidelberg aus durch Jakob Lindau […] ein harter Kampf gegen die Ortsschulräte geführt wird, finden sich darüber in den Leimener Kirchenakten keine Notizen, lediglich Lehrer Moritz Pfeiffer soll während seiner Amtszeit keine gute Rolle im Sinne der Kirche gespielt haben.“ Ebd. S. 259 wird behauptet, es gebe „beim Schulkampf in den Zeitungen keine Berichte über sich ausweitende Streitereien und Unstimmigkeiten in Leimen.“
11 StAL AB 744, Nr. 23.
12 StAL AB 744 Nr. 32.
13 StAL AB 744 Nr. 24, 1. Seite.
14 StAL AB 744, Nr. 24, 2. und 3. Seite.
15 StAL AB 744, Nr. 25.
16 StAL AB 744, Nr. 28; s. Regierungs-Blatt 1864, Nr. XXXVII, S. 473-477, Verordnung vom 20. August 1864, hier §§ 2 und 3.
17 Regierungs-Blatt 1868, Nr. LVII, S. 843-861, Das Verfahren bei Anträgen auf Aufhebung oder Errichtung konfessioneller oder gemischter Volksschulen vom 11. September 1868, hier § 25.
18 Heute Stadtteil von Heidelberg.
19 „Rongeaner“ wurden die Deutschkatholiken nach Johannes Ronge, einem ihrer Gründer genannt, heute „Freireligiöse Gemeinde“.
20 Pfälzer Bote, 14. Nov. 1868, No. 135, S. 583.
21 StAL AB 744, Nr. 29.
22 In Leimen war 1867 der Männergesangverein gegründet worden, Berno Müller, Leimen, Bd. 1, S. 257.
23 Pfälzer Bote, No. 9, 21. Jan. 1869, S. 32.
24 Lehrer und Pfarrer hatten von Amts wegen Sitz und Stimme im Ortsschulrat; den katholischen Pfarrern hatte der Erzbischof allerdings verboten, ihren Sitz im Ortsschulrat einzunehmen, s. Keßler, Schulgesetz 1864, S. 71 mit Anm. 41.
25 StAL AB 750.
26 Gesetztes- und Verordnungs-Blatt für das Großherzogthum Baden, Nr. XL, 21. September 1876, die Änderung einiger Bestimmungen des Gesetzes vom 8. März 1868 über den Elementarunterricht betreffend, S. 305-308, Art. I. In der ortsgeschichtlichen Literatur von Leimen wird dieses Gesetz für die Abschaffung der Konfessionsschulen am Ort angegeben, s. zuletzt Berno Müller, Leimen, Bd. 1, S. 257 und Bd. 2, S. 110, Anm. 35.
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