Vor 75 Jahren: Verschleppung jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger nach Gurs
(fwu – 23.10.15) Am gestrigen Donnerstag wurde mit einem ökumenischen Gottesdienst in der Mauritiuskirche und einer Gedenkstunde am Mahnmal im Rathaus Leimen der vor 75 Jahren stattgefundenen Verschleppung und Ermordung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger gedacht. Oberbürgermeister Ernst sprach die Gedenkworte (s.u.) und Martin Delfosse verlaß einen Brief von den Urenkeln des verschleppten und später ermordeten Ehepaares Karolina und Hugo Mayer.
Jürgen Mauter und Berndhard Fruh von der Musikschule Leimen untermalten die Gedenkstunde musikalisch mit Werken aus dem Notenbuch für Anna Magdalena Bach.
Unter den vielen an der Gedenkstunde Teilnehmenden waren u .a. die Pfarrer Steffen Groß (ev. Kirche), Jörg Geißler (ev. Kirche), Arul Lourdu (kath. Kirche) und die Stadträte Christiane Mattheier und Dietrich Unverfehrt.
Gedenkwort von OB Wolfgang Ernst:
„Meine sehr geehrten Damen und Herren, heute wird in badischen Städten und Gemeinden der Deportation der jüdischen Mitbürger vor 75 Jahren gedacht. Auch bei uns in Leimen wurden vier Menschen aus ihren Wohnungen gezerrt und verschleppt. Wir waren eben auf einer ökumenischen
Andacht in der Mauritius-Kirche, nun wollen wir hier im Rathaus am Mahnmal an das Schicksal der Opfer dieser unmenschlichen Aktion erinnern.
In Leimen waren es das Ehepaar Karolina und Hugo Mayer sowie Karoline Bierig und ihre Tochter Selma.
Am frühen Morgen des 22. Oktober 1940 werden in vielen Städten und Dörfern Badens, der Pfalz und des Saarlandes Tausende von Juden von Gestapo und Polizisten aus dem Schlaf gerissen und aufgefordert, sich in kurzer Zeit reisefertig zu machen. Sie sollen auf Befehl der Gauleiter, in Baden war das Robert Wagner, nach Frankreich in das Internierungslager Gurs am Rand der Pyrenäen deportiert werden.
Die völlig überraschten Menschen dürfen nur wenig Gepäck und Kleidung, ein bisschen Geld und Proviant mitnehmen. Am Abend des 22. Oktober, in etwa zu der jetzigen Stunde, werden sie in überfüllte Sonderzüge gepfercht und nach Gurs transportiert.
Seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten und ihrer Helfer, spätestens seit den schändlichen Nürnberger Rassegesetzen und der Pogromnacht vom 9. November 1938 war das Leben der Menschen jüdischen Glaubens unerträglich geworden, wir Nachgeborenen vermögen uns heute die Angst und den Schrecken dieser Lebensbedingungen wohl kaum vorzustellen. Mit dem Kriegsbeginn im September 1939 wurden die deutschen Juden als Feinde behandelt, nun, im Oktober 1940, folgte für die Juden in Baden, im Saarland und in der Pfalz der endgültige Schritt in die Verstoßung. Im Jahr darauf begannen die Deportationen in die Vernichtungslager im Osten und der Massenmord des Holocaust an den europäischen Juden.
Viele Instanzen und Behörden waren an der Organisation dieser ersten großen Verschleppungsaktion beteiligt – das Reichssicherheitshauptamt, die Reichsbahn, die Finanz-, Landes- und Kommunalbehörden. In den großen Städten wie Mannheim, Karlsruhe und Heidelberg wurden Hunderte Menschen zum Bahnhof getrieben – dieses grässliche Schauspiel müssen etliche Passanten gesehen haben.
Protest der Kommunen, Kirchen oder der Nachbarn regte sich, soweit man das heute weiß, in dieser angsterfüllten Atmosphäre allenfalls im verborgenen. Das Ziel der neun überfüllten Sonderzüge war das Lager Gurs in einem Tal der Pyrenäen – dort war man auf die über 6.000 verschleppten Menschen nicht vorbereitet, es war am Rand des Hochgebirges kalt und es regnete. Bereits im ersten Winter starben Hunderte Menschen an Infektionen, der Kälte und dem völligen Mangel an sanitären Einrichtungen.
Hugo Mayer starb in Gurs 1942, seine Frau Karolina sowie Karoline und Selma Bierig wurden mit den meisten bis dahin Überlebenden nach Auschwitz gebracht und dort ermordet.
Wir gedenken heute dieser unschuldigen Menschen und der Opfer aus Leimen.“
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