Sandhäuser im KZ Dachau – Von Rolf W. Maier

sandhausen-alte-synagoge-gedenksteinDas Konzentrationslager Dachau bei München diente dem Regime des deutschen Nationalsozialismus fast genau so lange, wie das diktatorische Gewaltsystem überhaupt existierte, nämlich vom 22.3.1933 bis 29.4.1945.

Bis US-Truppen die Haftinsassen des KZ Dachau endlich befreien konnten, erlebten und erlitten ca. 200.000 Häftlinge aus über 34 Staaten diesen „Vorhof der Hölle“. Insgesamt kamen dort ca. 41.000 Menschen ums Leben.

Im Unterschied zu den vorwiegend politischen Oppositionellen wurden drei bis vier Sandhäuser allein wegen ihrer sog. jüdischen Rassenzugehörigkeit dorthin verschleppt.

Jüdinnen und Juden lebten inmitten unserer Gemeinde Sandhausen seit fast 200 Jahren; die drei/vier Sandhäuser, Julius und Ludwig Wahl sowie Dr. Ludwig Marx entstammen alle den drei alteingesessenen jüdischen Familien Wahl, Marx und Freund. Die jüngste zugezogene Familie Freund hatte sich ca. 1890 in Sandhausen niedergelassen. Nach der Reichspogromnacht (früher verharmlosend „Reichskristallnacht“ genannt) vom 9. auf den 10.11.1938 verhafteten die Polizeibehörden die ersten drei Sandhäuser in Sandhausen selbst, den vierten Sandhäuser in Karlsruhe.

  • Julius Wahl, geb. in Sandhausen am 15.9.1880
  • Ludwig Wahl, geb. in Sandhausen am 22.2.1907, Sohn des Julius Wahl
  • Kaufmann Freund, geb. in Odenheim am 20.9.1865, aber ca. 50 Jahre in Sandhausen ansässig. (Bislang ging man davon aus, Freund sei in Sandhausen geboren worden)
  • Dr. Ludwig Marx, geb. in Sandhausen am 2.8.1891.

Wie kam es dazu?

Im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung Deutschlands stellen wir fest, dass 1871 ungefähr 512.000 Juden, d.h. 1,25 Prozent der Gesamtbevölkerung, im Deutschen Reich lebten, zu Beginn des Nazi-Regimes waren es noch 500.000, d.h. unter einem Prozent. Dieser Prozess der stetigen prozentualen Abnahme der jüdischen Minderheit hängt zusammen mit den überseeischen Auswanderungen bzw. mit der Überalterung der deutschen Juden. Einen ähnlichen, wenngleich auch noch stärkeren Schrumpfungsprozess, können wir hinsichtlich der demografischen Entwicklung Sandhausens konstatieren, da 1875 hier der Prozentsatz bei 4 Prozent lag und Mitte der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts nunmehr bei 0,5%. Kurz vor der Verhaftung der jüdischen Sandhäuser lebten in unserer Gemeinde nur noch sieben von einst über 100 Jüdinnen und Juden.

Antisemitismus als besondere aggressive Form des Rassismus existierte auch im Ausland und bereits vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus. So traten bei den Reichtags- und Landtagswahlen um 1900 Kandidaten einer „Partei der Antisemiten“ an, die 16 Sitze im Reichstag errangen und bei Landtagswahlen in Sandhausen über 17% erzielten. In unserer Nachbarstadt Walldorf kam es anlässlich einer Wahlveranstaltung der Antisemitenpartei zu handfesten Schlägereien. Aber diese antisemitische Welle ebbte wieder ab, dennoch stoppte dies nicht den jüdischen Auswanderungsstrom, besonders nach Nord- und Südamerika.
Nachdem Reichspräsident von Hindenburg die Reichskanzlerschaft an Hitler übergeben hatte, der zu diesem Zeitpunkt 33,1% der deutschen Wählerschaft gewinnen konnte, setzte eine massive Kampagne des Antisemitismus ein, die letztendlich zur grauenvollen, fabrikmäßigen und millionenfachen Vernichtung der europäischen Juden führte. In Deutschland selbst stabilisierte Hitler seine Herrschaft durch große außenpolitische Erfolge im Jahre 1938, da das Sudetenland, zu diesem Zeitpunkt Teil der demokratischen Tschechoslowakei, und die autoritär geführte Republik Österreich ins Deutsche Reich einverleibt wurden. Diese Erfolge ermutigten nun die euphorisierten Führer des Reiches auch innenpolitisch gewalttätiger und massiver gegen die jüdische Minderheit vorzugehen.

Es begann mit der „Juniaktion“ 1938, die 10.000 „Asoziale“, darunter 1500 Juden, die zu einer Haftstrafe verurteilt waren, in die KZs brachten. Ende Oktober 1938, und das ist bereits die Vorgeschichte der Reichspogromnacht, verhaftete die Gestapo 17.000 polnische Juden, um diese über die östliche Reichsgrenze nach Polen abzuschieben. Unter diesen Deportierten befanden sich auch die Eltern des jüdischen Attentäters Herschel Grynszpan, der in Paris aus Rache einen Angehörigen der Deutschen Botschaft tötete.

In der Folge nutzte die Staatsführung diese Tötung ihres Beamten, um gezielt und brutal gegen das deutsche Judentum insgesamt vorzugehen, um deutlich zu machen, dass nun die Juden als absolut rechtlose Menschen Deutschland unter Hinterlassen ihres Eigentums bald zu verlassen haben. Vorzugsweise sollten wohlhabende Juden festgenommen werden.

Die Rache des NS-Staates wütete im gesamten Reich, auch in Sandhausen.

Am 10. oder 11.11.1938 nahmen die Behörden die drei Sandhäuser Juden fest, wobei in diesem Zusammenhang nach dem Ende des Krieges ein SA-Mann aus Dossenheim 1946 für seine Untaten, nämlich der Demolierung von Wohnungen „zweier jüdischer Familien“ belangt und zu einer Haftstrafe von sieben Monaten verurteilt wurde.

Wie bekannt, konnte ja die Synagoge nur dadurch gerettet werden, dass Kaufmann Freund als Repräsentant der Sandhäuser Juden die Synagoge an die Gemeinde Sandhausen verkauft hatte, da es dort keine 10 ansässigen jüdischen Männer mehr gab, die sich zu einer Gebetsstunde bzw. zum Gottesdienst zu treffen vermochten.
Nach der Verhaftung erfolgte der Abtransport per Zug nach Dachau, vor allem Juden aus dem Rheinland, Süddeutschland und Österreich sperrte man in dieses Lager ein. Über 10.000 jüdische Männer sollten für das Attentat büßen. Davon verloren mindestens 170 Männer ihr Leben in Dachau.

Von den 1938 in Sandhausen lebenden Juden existieren keine Ego-Dokumente. Wir wissen kaum etwas von ihren Erlebnissen. Lediglich der Überlebende Dr. Ludwig Marx hat uns ein Dokument, einen autobiografischen Text, mit dem Titel „Dachau“ hinterlassen, in dem er ziemlich anschaulich die Grausamkeiten, die er dort wochenlang erleiden musste, schildert.

Wie war das Lagerdasein?

Nach langer Zugfahrt bis München Hauptbahnhof, dann Umstieg in die Nebenbahn nach Dachau, erreichten die Männer, begleitet mit Hieben, Schlägen mit Gewehrkolben, demütigenden Ohrfeigen und Fußtritten das Konzentrationslager, wo sie von Wachmannschaften mit geladenen Revolvern, Gewehren mit aufgepflanzten Bajonetten sowie mit MGs auf den Wachtürmen „empfangen“ wurden. Am ersten Tag erhielten die geschorenen Häftlinge weder Essen und Trinken, sodass nachts der Durst nur durch das Wasser „in der Abortschale“ zu stillen war. Über den Tagesablauf wissen wir Folgendes: Frühmorgens um 4 Uhr aufstehen, Appelle fanden dreimal am Tag statt (6 Uhr, 13 Uhr und 18 Uhr), Bettruhe wurde für 21 Uhr vorgeschrieben. Zu essen verabreichte man frühmorgens eine braunflüssige Brühe, genannt Kaffee, sowie ein Stück Brot, mittags meistens eine undefinierbare Suppe, gelegentlich auch mit einer kleinen Kartoffel „garniert“.
Als Kleidung diente ein Schlafanzug, dazu noch ein Hemd, Strümpfe und ein Paar Schuhe; Versuche der Häftlinge, sich mit Zeitungspapier unter dem Schlafanzug gegen die aufkommende Novemberkälte zu schützen, wurden bei Strafe verboten.

Zunächst stand im Mittelpunkt der Tagesbeschäftigung Appelle-Stehen sowie Marschieren, Marschieren und gelegentliches Turnen, am Wochenende entfielen diese sinnentleerten Bewegungen. Besuche zwischen den Haftinsassen waren möglich. Mitte November mussten alle Inhaftierten einen Brief mit dem gleichen diktierten Inhalt schreiben, um die Verwandten aufzufordern Geld zu schicken, damit man sich Hygiene-Artikel etc. in der Kantine des Lagers kaufen könne, wie z.B. Rasiergerät.

Ende November 1938 häuften sich die Selbstmorde und die Anzahl der an Lungenentzündung Erkrankten.

Allen KZ-Häftlingen, deren Entlassungstag bevorstand, „bläute“ man ein, Deutschland baldmöglichst zu verlassen. Verzögerungen bei den Entlassungen lagen oft auch an den vermuteten verheimlichten Geldmengen, denn das jüdische Eigentum sollte letztendlich an das NS-Regime übergehen.

Als einer der ersten konnte Ludwig Marx wieder freikommen, und zwar höchstwahrscheinlich bereits am 3.12.1938, da Marx eine genehmigte Einreise nach Großbritannien vorweisen konnte.

Eine Woche darauf, am 10.12.1938, durfte Julius Wahl das Lager verlassen, wohingegen sein Sohn, der 31jährige Ludwig bis kurz vor Weihnachten, 23.12.1938, in Dachau ausharren musste.

Über Kaufmann Freund und seinen eventuellen Aufenthalt in Dachau wissen wir bis heute noch nichts Genaues. Demnächst vielleicht mehr.

Während es der Familie Marx mithilfe Ihres Sohnes Robert, der bereits eine englische Aufenthaltsgenehmigung besaß, gelang, im März 1939 über Holland nach England zu emigrieren und dort bis Anfang der 50er Jahre Exil und eine neue Heimat fand, dauerte das zunächst gestundete Martyrium für die anderen Juden an. Immerhin konnte Julius Wahl noch erleben, dass seine Tochter Johanna, geb. am 13.4.1914 in Sandhausen, in Frankfurt Max Gutheim heiratete, mit ihm in die USA emigrierte und dort 1939 ein Kind zur Welt brachte. Dieser Junge lebt heute in Kalifornien. Sein zweitältester Sohn Alfred, geb. 22.1.1909, starb bereits 1936 in Frankfurt a.M.

Aufgrund der Deportation (fast) aller badischen Jüdinnen und Juden nach Gurs/Frankreich überlebten Kaufmann Freund (gest. 17.10.1941), Emma Freund, geb. Geismar (13.9.1868-16.9.1941) sowie Mina Wahl, geb. Lorch (14.6.1873 – 26.11.1940) dieses Lager nicht.

Julius und sein Sohn Ludwig wurden von den Nazi-Schergen im Vernichtungslager Auschwitz ermordet. Julius starb am 12.8.1942, und Ludwig am 9.9.1942.
Warum es der Familie Wahl misslang, ihr Leben durch Flucht oder Emigration zu retten, verschließt sich uns bis jetzt. Vielleicht werden wir 2017 mehr erfahren.


Zum Nachlesen:

  • Reinhard Düchting, Ludwig Marx (1891-1964), in: Michael Heitz und Bernd Röcker, Jüdische Persönlichkeiten im Kraichgau, Ubstadt 2013
  • Michael Hepp (Hg.), Die Ausbürgerung deutscher Staatsbürger 1933-1945 nach den im Reichsanzeiger veröffentlichten Listen, Band 1-3, München, New York, London, Paris 1985
  • Andreas Hermes, Die Sandhäuser Synagoge, mschr., Bad Bergzabern 1998 (Diesen Hinweis verdanke ich Martin Schweigler)
  • Kurt Frei, Familien in Sandhausen nach 1899, Sandhausen 1995
  • Johnpeter Grill, The Nazi Movement in Baden 1920-1945, The University of North Carolina – Press 1983
  • Heimatbuch der Gemeinde Sandhausen 1986
  • Thilo Pflugfelder, Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden in Baden während des „Dritten Reiches“, Stuttgart 1980
  • Klaus Rössler, Odenheimer Familienbuch, Odenheim/Östringen 2000
  • Martin Schweigler, In Memoriam Kaufmann Israel Freund und Emma Sara Freund, geb. Geismar, in: Gemeindenachrichten Sandhausen vom 18.10.1991 und 25.10.1991
  • Martin Schweigler, Sandhausen – Gurs – Auschwitz, in: Gemeindenachrichten Sandhausen vom 11.9.1992 und 18.9.1992
  • Tobias Stäblein, Ludwig Marx, in: Gedächtnisbuch für die Häftlinge des KZ Dachau, Augsburg 2012
  • Hannah Weisser, Familie Wahl in Sandhausen, Vortrag am 31.Mai 2015 bei Stolperstein – Veranstaltung in der ehem. Synagoge
  • Josef Werner, Hakenkreuz und Judenstern, Karlsruhe 1988

Rolf W. Maier Dezember 2016


 

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