Rede von Prof. Walter Mühlhausen: „Von Tätern, Opfern und Helden“
Rede von Prof. Walter Mühlhausen – Geschäftsführer der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg – gehalten auf dem Neujahrsempfang der Stadt Leimen am 25. Januar 2015 in der Aegidiushalle St. Ilgen.
„In zwei Tagen, am 27. Januar, jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 70. Mal. Am 27. Januar 1945 wurde das Lager Auschwitz durch die Rote Armee befreit. Auschwitz steht als Synonym für den Massenmord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden. Die Vereinten Nationen erklärten 2005 diesen Tag zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Der Tage kein Feier-Tag im üblichen Sinn. Er ist ein „Denk-Tag“ oder noch besser Ge-Denk-Tag. Es ist also ein weltweiter Erinnerungsort, für das Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Die Aktualität hat den Vortrag eingeholt. Es ist kein gutes Zeichen. Dass nunmehr ein Deutungsstreit darüber einsetzte, wer Auschwitz befreit hat. Und es ist kein gutes Zeichen, dass – aus welchen Gründen auch immer – über die Teilnahme des offiziellen Russland an den Feiern in Polen eine – unsägliche – Diskussion entbrannt ist. Denn damit wird Geschichte instrumentalisiert oder gar nachträglich noch umgebogen. Um es deutlich zu machen: Es war die Rote Armee, die das Lager befreite. Ganz aktuell erhält das Thema erneute Brisanz. Bei der Autofahrt hörte ich Nachrichten. Eine der Meldungen: Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wollen mehr als die Hälfte der Deutschen nichts mehr vom Holocaust wissen. Erschreckend. Das macht es umso mehr notwendig, an die Geschichte zu erinnern.
Auschwitz ist Ausdruck des Rassenwahns und das Kainsmal der deutschen Geschichte. Der Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz wurde 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zum deutschen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erhoben. Auschwitz ist also auch ein spezieller deutscher Erinnerungsort.
Erinnern an Geschichte ist das Thema meines Vortrages, es geht um die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik, es geht Erinnern in der Demokratie – erinnern wozu, an wen und warum?
Wir haben ein Erinnerungsjahr 2014 hinter uns, das uns nahezu erschlagen hat. 100 Jahre Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Guido Knopp hoch und runter im Fernsehen, die Literatur dazu ist Legion; und wer behauptet, sie alle gelesen zu haben, dem dürfen Sie keinen Glauben schenken. Dieser Hype war so nicht vorauszusehen gewesen. Neben Frankreich war es gerade hier in Deutschland, wo am intensivsten an den Ersten Weltkrieg erinnert wurde. Das erklärt sich aus der Bedeutung des Krieges für beide Nationen.
Man braucht nicht zu den vielzitierten Auguren zu gehören, um vorherzusagen, dass das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren, am 8. Mai, auch wieder zu zahlreichen Erinnerungsfeiern, Sendungen in Funk und Fernsehen und zu einer Flut von Publikationen führend wird. Das ist gut so. Erinnern heißt immer: vor dem Vergessen bewahren oder manchmal sogar aus dem Vergessen entreißen und wieder ins Bewusstsein zu holen.
In Deutschland werden solche Erinnerungstage mit besonderer Verve begangen, nicht nur, weil sie besonders mit der deutschen Geschichte verwoben sind, sondern vielleicht auch, weil wir zwar einen Nationalfeiertag haben, aber dieser ist nicht von einem Mythos eines Kampfes um Freiheit und Demokratie umgeben ist wie in anderen Ländern.
Natürlich haben es da die Amerikaner und Franzosen leichter, ihren Nationalfeiertag zu feiern, weil an diesen Tagen sich die Freiheitsbewegung manifestierte oder sich der Volkswille Bahn brach, ob nun mit der Ratifizierung der Declaration of Independence am 4. Juli 1776 die Unabhängigkeit der USA oder am 14. Juli 1789 mit der symbolträchtigen Erstürmung der Bastille als Auftakt der französischen Revolution. Wir Deutschen tun uns schwer. Wir feiern den 3. Oktober, den Tag der Wiedervereinigung von 1990, als Tag der deutschen Einheit, als quasi deutschen Nationalfeiertag. Im Grunde legten Bürokraten das Datum fest, in dem sie bestimmten, wann die Vereinigung vollzogen werden sollte. Und dieser Tag sollte nach dem Einigungsvertrag ein gesetzlicher Feiertag sein. Die Vereinigung war ein historisches Ereignis – gewiss von großer Bedeutung, aber ihm fehlte der Impetus des historischen einzigartigen Moments, wo das Volk handelte, wo der Weg in Freiheit, Unabhängigkeit oder Demokratie aus dem Moment heraus erstritten wurde. Wenn es die damalige Bonner Ministerialbürokratie für besser erachtet hätte, hätte es auch der 10. Oktober sein können oder aber der 11.11. – der wohl eher nicht wegen des Faschingsanfangs.
Darum muss man sich fragen, warum die Gesetzgeber nicht daran dachten, den 9. November zum nationalen Feier- und Gedenktag zu erklären. Feier- und Gedenktag. Ich sage das bewusst. Denn der 9. November ist ein sperriger Tag, ebenso wie wir Deutschen eine sperrige Geschichte haben. Aber eben genau aus diesem Grunde eignet sich der 9. November in besonderer Weise.
Der 9. November wäre ein Feiertag, weil mit ihm 1918 der Weg in die Demokratie und in den Frieden geschlossen wurde, als der letzte kaiserliche Reichskanzler an eben diesem 9.11.1918 die Kanzlerschaft dem aus Heidelberg stammenden Sozialdemokraten Ebert übertrug und ausgerechnet dieser Mann aus der verfemten Arbeiterbewegung den Weg in die Republik, in die erste deutsche Demokratie bahnte. Also ein Fest- und Feiertag. Und die Würdigung eines Vorkämpfers der Demokratie – wenn Sie so wollen – „eines Helden“.
Der 9. November wäre weiter ein Fest- und Feiertag, weil die Bürger der DDR die friedliche Revolution zum Erfolg führten, indem sie erreichten, dass an diesem Tag des Jahres 1989 die Mauer fiel, die Grenze geöffnet wurde und damit der Weg frei war für die Wiedervereinigung. Es wäre auch die Ehrung zahlloser, namenloser Helden im Kampf um die Freiheit.
Der 9. November wäre auf der anderen Seite ein Gedenktag, weil an diesem Tag im Jahre 1923 Hitler erstmal versuchte, die Macht zu ergreifen. Sein an diesem Tag dilettantisch organisierter „Marsch auf Berlin“, vom Münchner Bürgerbräukeller aus gestartet, endete jedoch bereits an der Feldherrenhalle kläglich. An den 9. November 1923 zu erinnern, heißt an den Täter zu erinnern, heißt auch zu zeigen und zu warnen, dass Demokratie immer Gefährdungen ausgesetzt ist und dass sie immer zu verteidigen ist. Sie ist nichts Gottgeschenktes auf Dauer, sondern etwa Erkämpftes, um das es sich zu immer wieder zu kämpfen lohnt.
Der 9. November wäre ein würdiger Gedenktag, auch weil im Jahre 1938 die Synagogen brannten, ein inszeniertes Schauspiel der Erniedrigung und der Demütigung der jüdischen deutschen Mitbürger. Es besaß tiefen Symbolcharakter, dass die Synagogen, die Wahrzeichen jahrhundertlanger jüdischer Tradition, zerstört wurden. Vom November 1938 war es nur ein kurzer Weg bis zur Shoah, dem millionenfachen systematischen Mord an den Juden – Signum für das unvorstellbar Furchtbare der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Der 9. November 1938 steht für die Barbarei des 20. Jahrhunderts. Es wäre ein Gedenken an die Opfer, an Millionen von 0pfern.
Man hätte also insgesamt gut daran getan, doch den 9. November mit in die Überlegung einzubeziehen, einen nationalen Gedenk- und Feiertag zu bestimmen. Was hätte man sich vergeben, mit der Vereinigung nach dem 3. Oktober noch 5 Wochen bis zum 9. November zu warten. Man hätte an beides erinnern können, die demokratischen Traditionen und den Freiheitswillen der Deutschen, aber auch an das Unheil in der deutschen Geschichte, zugleich erinnern können an die Täter, an die Opfer und an die Helden. Das wäre m. E. alles mit dem 9. November zu verbinden gewesen.
So erinnern wir an verschiedenen Tagen an verschiedene Ereignisse. Blicken wir nun genauer hin auf das, an was wir erinnern. Wenn auch mit Verzögerung, so widmete sich die bundesdeutsche Erinnerungskultur zunächst den Verbrechen des Nationalsozialismus. Neben der Forschung an den Universitäten verdanken wir Initiativen, Geschichtsvereinen, politischen und kirchlichen Organisationen, Projektgruppen aus engagierten Bürgern, dass die Erinnerung an den Nationalsozialismus im lokalen und regionalen Raum überhaupt erst einsetzten und auch weiter bestehen wird. In nicht wenigen Fällen sind aus diesen vielschichtigen Aktivitäten Gedenkstätten entstanden. Ergänzend zu den Gedenkstätten an historischen Orten des Hitler-Terrors hat jedes Stadtmuseum einen Abteilung oder einen Schwerpunkt, der der Geschichte des Nationalsozialismus gewidmete ist, wo Täter namhaft gemacht und an die Opfer erinnert wird, die unter dem Nazi-Regime aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen verfolgt und ermordet wurden.
Auch Leimen hat sich in besonderer Weise seiner Verantwortung zur Erinnerung an die dunklen Seiten gestellt, als am 9. November 2013 das Mahnmal zur Erinnerung an die aus Leimen deportierten Juden eingeweiht wurde in Anwesenheit der Nachfahren der aus Leimen deportierten jüdischen Mitbürger. Und zum 74. Jahrestag der Deportation – auch von vier Leimener Bürgern und Bürgerinnen jüdischen Glaubens in das Internierungslager nach Gurs in den Pyrenäen – hatte die Stadt am 21. Oktober 2014 eine „Stille Gedenkfeier“ ausgerichtet.
Gerade um die Erinnerung im lokalen Raum haben sich manche „Barfußhistoriker“ verdient gemacht, die an Ereignisse und Personen in den einzelnen Gemeinden erinnern, nicht nur durch die Stolpersteine, die man nunmehr allerorten findet. Hier hat sich ein Bewusstsein entwickelt, dass auch im Alltag von Nutzen ist, wenn man durch solche Stolpersteine in seinem Flanieren gestoppt wird und zumindest für einen Moment zum Nachdenken gezwungen ist.
An die geschichtliche Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur, an Opfer und Täter, aber auch an die Helden, die sich dem entgegenstellten, zu erinnern, sie konsequent aufzuarbeiten – das gehört zum moralischen Fundament der Bundesrepublik. Das geschieht im Großen wie im Kleinen. Im Großen: Am 27. Januar findet im Bundestag die Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus statt. Festredner wird Bundespräsident Gauck sein. Letztes Jahr war es der 95-jährige russische Schriftsteller Daniil Granin. Im Kleinen: Sie haben es vielleicht in der Zeitung gelesen: Die Universitätsklinik für Allgemeine Psychiatrie in Heidelberg veranstaltet am 27. Januar eine Gedenkstunde für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“. Dort an der Klinik gibt es ein Mahnmal vor dem Haupteingang erinnert an die 21 geistig behinderten Kinder – Patienten der Heidelberger Klinik – die 1944 in der Anstalt Eichberg ermordet wurden, um ihre Gehirne in Heidelberg untersuchen zu können.
Neben der Erinnerung an die NS-Zeit und ihre Verbrechen haben wir seit 1989 an die zweite Diktatur auf deutschem Boden mit einzubeziehen, wobei ich beide nun beide Diktaturen nicht in einen Topf geworfen wissen will. Wir haben nunmehr die Verpflichtung zu einer „doppelten“ Aufarbeitung von gewalttätiger Herrschaft. Ein nicht leichtes Geschäft, denn die Geschichte der DDR stellt für einen Teil der Deutschen erlebte Geschichte dar. Die Geschichte der DDR kann man eben nicht objektiv betrachten; dazu gibt es zu viele subjektive Erinnerungsräume. Es gibt noch viele Menschen, die mit der DDR existenziell verbunden sind, ob konfliktiv oder empathisch. Für den Westdeutschen ist das alles nicht leicht nachzuvollziehen
Wie mir scheint, bekommen wir das hier im Westen nicht so mit, dass nun allerorten in der DDR an den Kommunismus und seine Verbrechen erinnert wird. Auch in Berlin muss man die Stellen suchen, wo die DDR thematisiert wird. Rund um das Brandenburger Tor gibt es heute zahlreiche Stätten, die dem Nationalsozialismus und seinen Opfer gewidmet sind. Wie sie wissen, gibt es – neben dem 2005 eingeweihten ein Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Juden – seit 2012 gegenüber dem Reichstag auch ein Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Großes Verdienst von Romani Rose. Die Berliner Mauer aber als authentischer Ort der Erinnerung an die DDR und das Unrecht der SED wurde weitgehend aus dem Stadtbild verbannt. Nur mühsam hat Berlin einzelne Orte der Erinnerung an die Opfer des Kommunismus errichtet, etwa die Gedenkstätte Berliner Mauer oder die Stasi-Erinnerungsstätte aber da geht der Besucher eher wenig hin.
Um es deutlich zu machen: Sowohl die die Verbrechen der Nationalsozialisten als auch die Verbrechen des stalinistischen Kommunismus gehören unabdingbar zum deutschen Erinnerungshaushalt. In der Bundesrepublik besteht Konsens darüber, dass die Erinnerung an das nationalsozialistische Regime, an den von Deutschen betriebenen millionenfachen Mord an den Juden, an den von deutschem Boden ausgehenden Zweiten Weltkrieg, aber auch an die zweite deutsche Diktatur der DDR für das historische Selbstverständnis der Bundesrepublik unabdingbar ist. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die deutsche Erinnerungskultur maßgeblich von der Geschichte zweier Diktaturen, die der Nationalsozialisten und die der SED, geprägt ist. Die Institutionalisierung eines „negativen Gedächtnisses“ – wie das einmal bezeichnet worden ist – gehört zu den Besonderheiten der bundesdeutschen Memorialkultur. Wir haben hier eine besondere Verantwortung.
Demgegenüber spielt die Erinnerung an demokratische Traditionen in Deutschland eine vergleichsweise untergeordnete Rolle, lange Zeit stiefmütterlich behandelt. Wer so eine grauenvolle Geschichte wie die Deutschen vorzuweisen hat, muss gar nicht versuchen, sich auf seine demokratischen Traditionen zu besinnen, vielleicht sogar Gefahr zu laufen, durch die Besinnung auf demokratische Traditionen das Grauen verdrängen zu wollen. Diese Furcht scheint unterschwellig mitgeschwungen zu haben beim Versuch, sich der demokratischen Leitbilder zu erinnern. Barer Unsinn: Indem man das eine würdigt, wird das andere nicht verdrängt. Beides ist zu leisten.
Die Erinnerung an die demokratischen Traditionen wird im Wesentlichen getragen vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn und dem Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig sowie vom Deutschen Historischen Museum in Berlin.
Blicken wir in die Region, auf die Erinnerungsstätten der Demokratie und der Freiheit. Ein Ort ist die Paulskirche in Frankfurt. Das Wirken der dort 1848/49 tagenden revolutionären Nationalversammlung gewann einen festen Platz im historischen Gedächtnis der Deutschen. Eine erste wichtige Station war dabei die Feier 1923 anlässlich des 75. Revolutionsjubiläums in Anwesenheit von Reichspräsident Friedrich Ebert. 1944 zerstört, wurde die Paulskirche nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder aufgebaut. Die Einweihung erfolgte im Mai 1948, zum 100. Jahrestag des Zusammentritts der Nationalversammlung. Die Paulskirche wird seitdem nicht mehr als Kirche genutzt, sondern als ein Erinnerungsort der Demokratie in Deutschland.
25 Jahre nach der Wiedererrichtung der Paulskirche als einer der Ort der demokratischen Erinnerung in der jungen Bundesrepublik kam 1974 mit der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte im Rastatter Schloss ein zweiter Ort hinzu. Den Anstoß für das Haus in Rastatt gab Bundespräsident Gustav Heinemann. Maßgeblich auf seine Initiative hin entstand so ein Museum, das die zentralen Aspekte der Freiheitsgeschichte des deutschen Volkes würdigt, mittlerweile von 1848 bis in die Jetzt-Zeit. Rastatt ist ein historischer Ort, denn 1849 – nach der Niederschlagung der Freiheitsbewegung – wurden 19 Revolutionäre standrechtlich erschossen. Es ist also ein Ort der Opfer, der namenlosen Helden.
Unweit davon ein anderer historischer Ort: das Hambacher Schloss, Sinnbild der Demokratie in ganz Deutschland. 1832 wurde die Schlossruine durch eine Protestveranstaltung von etwa 30.000 Menschen zum Schauplatz der frühen Demokratiebewegung. Zum 150-jährigen Jubiläum des Hambacher Festes wurde das Schloss restauriert und eine Dauerausstellung zur deutschen Demokratiegeschichte installiert.
Alles in allem kann und soll Deutschland auch auf seine demokratischen Traditionen und Ereignisse stolz sein. Sie sind der Erinnerung wert. Und man sollte auch an jener gedenken, die für Freiheit und Demokratie kämpften. Wenn wir an Personen erinnern, so tun wir dies nicht in Glorifizierung, sondern mit einer kritischen Distanz, wo auch die Fehler des „Helden“ benannt werden. Da sind wir weit von der Beweihräucherung entfernt, wie die bei den amerikanischen Presidential Libraries zu bewundern ist. In Amerika erhält ein jeder Präsident ein Museum, zumeist von Sponsoren finanziert. Jeder bekommt eine. Auch der Watergate-Präsident Richard Nixon hat in einem Ort in Kalifornien eine Presidential Library mit Museum. Mit dem Einrichtung wird sogleich nach dem Auszug aus dem Weißen Haus begonnen. In diesen Museum, wie etwa für John F. Kennedy in Baltimore mit wunderschönem Blick auf das Meer oder für George Busch dem Älteren, also den Vater, in College Station Texas, finanziert zu großen Teilen von den Saudis in Dankbarkeit für den ersten Irak-Krieg, wird das Bild des Präsidenten mitunter ganz schon geliftet und in ein grelles helles Licht gestellt, so dass kein Schatten zu sehen ist.
Wir Deutschen tun uns schwerer mit der Erinnerung an Personen. Wir gehen generell weitaus kritischer um mit unseren demokratischen Helden, wenn wir diese überhaupt als solche bezeichnen wollen. Ein Beispiel: Georg Elser, der Attentäter vom Bürgerbräukeller, der am 8. November 1939 Hitler im Alleingang hatte beseitigen wollen. Die bundesdeutsche Gesellschaft weigerte sich lange Zeit beharrlich, sich mit Elser als Widerstandskämpfer zu beschäftigen, von einer Ehrung ganz zu schweigen.
Im Gegensatz zu den Verschwörern des 20. Juli 1944 wurde Georg Elser in der offiziellen Gedenkkultur der Bundesrepublik bis in die 1990er Jahre kaum gewürdigt. Elser und seine Tat wurden lange totgeschwiegen, sein Geburtsort als „Attentatshausen“ verunglimpft. Noch 2003 kam es bei der Benennung einer Schule in Königsbronn, der Nachbargemeinde von Elsers Geburtsort, nach Georg Elser zu merkwürdigen Einwänden. Es war Bundeskanzler Helmut Kohl, der bereits 20 Jahre zuvor, im Jahre 1983, in seiner Rede zum 20. Juli Elser erwähnt hatte. Helmut Kohl war von Haus aus Historiker und er wusste, von wem er sprach. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass der am 9. April 1945 ermordete Georg Elser ein Beispiel dafür ist, dass die Unterwerfung unter die Nazi-Diktatur auch für so den einfachen Menschen nicht alternativlos war. Seinen Mut bezahlte Elser mit dem Leben.
In jedem Fall lohnt sich die Auseinandersetzung mit historischen Persönlichkeiten der deutschen Geschichte, die in der Politik des 19. und 20. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle gespielt haben. Deshalb hat der Deutsche Bundestag seit 1978 fünf überparteiliche Gedenkstiftungen gegründet, die Politikern des 19 und 20. Jahrhunderts gewidmet sind. Eine davon ist die Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg, deren Geschäftsführer zu sein, ich die Ehre habe.
Am 19. Dezember 1986 beschloss der Deutsche Bundestag mit den Stimmen aller Parteien gegen diejenigen der grünen Bundestagsfraktion die Errichtung der bundesunmittelbaren Stiftung. Institutionelles Vorbild war die im Jahr 1978 ins Leben gerufene Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus in Rhöndorf bei Bonn gewesen. Bis heute sind drei weitere Politiker-Gedenkstätten-Stiftungen hinzugekommen: die Stiftung Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart, die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung in Berlin und die Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh. Grundsatz ist: Es erfolgt keine Gründung einer Bundestiftung zu Lebzeiten. Darin unterscheiden wir uns von den US-Amerikanern.
Ursprünglich war die Einrichtung dieser fünf Memorialstätten an die Voraussetzung geknüpft gewesen, dass sie an einem mit der Biographie des jeweiligen Namensgebers in engem Zusammenhang stehenden Originalort der Geschichte angesiedelt werden sollten. In Heidelberg war dies dank der Tatsache, dass die Stadt im Zweiten Weltkrieg weitgehend von Zerstörungen verschont geblieben war, die kleine Mietwohnung, in der Friedrich Ebert am 4. Februar 1871 – wer es genau wissen will: mittags um 12 Uhr – zur Welt gekommen war. In dieser rund 45 Quadratmeter großen beziehungsweise eigentlich kleinen Wohnung, in der zeitweise acht Menschen lebten, gab es schon seit 1962 eine lokale Erinnerungsstätte, getragen von der Stadt Heidelberg und der großen parteinahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. 1982 setzten Planungen der Stadt Heidelberg ein, eine größere, nationale Gedenkstätte zu schaffen. Wiederum kam es zu Kritik seitens der Grünen. Vor allem Vertreter von SPD, führend deren Bundestagsabgeordnete Hartmut Soell, und der Grünen, in erster Linie deren seinerzeitig Stadtrat Reinhard Bütikofer, der spätere Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, lieferten sich in den örtlichen Presseorganen heftige Wortwechsel. Kulminierend in dem Vorwurf der Grünen: Ebert sei für die Demokratie eine Flasche gewesen. Dennoch wurde die Bundesstiftung auf den Weg gebracht. Wie auch im örtlichen Heidelberger Raum lehnte die Grünen das Gesetz im Bundestag ab. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ kommentierte die Bundestagsdebatte mit „Gotteslästerung. Grüne Respektlosigkeit gegenüber einem SPD-Heiligen“.
Nun – um Beweihräucherung, wie die Grünen es 1989 bei der Verabschiedung befürchteten, ging es den Initiatoren der Ebert-Gedenkstätte freilich nicht, denn auch innerhalb des sozialdemokratischen Lagers war Ebert nicht unumstritten. Kritik wurde auch aus dem eigenen Lager seiner Politik in der Revolutionszeit und als Reichspräsident festgemacht. Es wurden ausgelassene Chancen auf Reformen ausgemacht, die für die Instabilität der Republik und damit auch den Untergang 1933 verantwortlich gewesen seien. Das lastete man Ebert und seiner Partei an. Mittlerweile ist dieses Urteil unter Berücksichtigung der enormen Zwangslagen in der Revolutionszeit weitgehend wieder zurückgenommen worden, ebenso wie die Kritik am Reichspräsidenten. So nimmt der Sozialdemokrat und Staatsmann Friedrich Ebert als Gründer und Garant der ersten Republik einen vorderen Platz in der demokratischen Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland ein.
Das schließlich im Dezember 1986 verabschiedete „Gesetz über die Errichtung einer Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte“ trat am 1. Januar 1987 in Kraft. Und am 11. Februar 1989 wurde die Gedenkstätte der Öffentlichkeit übergeben, im Beisein von Bundespräsident Richard von Weizsäcker.
Zweck der Bundesstiftung ist es – so lautet der Gesetzestext – „das Andenken an das Wirken des ersten deutschen Reichspräsidenten Friedrich Ebert zu wahren und einen Beitrag zum Verständnis der deutschen Geschichte seiner Zeit zu leisten“. Diesem Gesetzesauftrag versucht die Stiftung auf vielfältige Weise gerecht zu werden, wobei die politische Bildung und die historische Forschung die beiden Schwerpunkte bilden. Letztes Jahr kamen 70.000 Besucher in das Friedrich-Ebert-Haus in der Heidelberger Altstadt, um die Geburtswohnung Friedrich Eberts, die auf zehn kleine Räume mit insgesamt rund 280 Quadratmetern Fläche verteilte ständige Ausstellung über das Leben des ersten Reichspräsidenten vor dem Hintergrund seiner Zeit oder eine der zahlreichen Sonderausstellungen zu besichtigen. Da wird das Bild nicht verklärt, sicher wird eine dezidierte Meinung vertreten, diese wird aber zur Diskussion gestellt.
Wir schicken drei Wanderausstellungen auf die Reise, über Friedrich Ebert, über die zwölf Reichskanzler der Weimarer Republik oder über Karikaturen der Weimarer Reichskanzler. Daneben bietet die Stiftung ein breites Spektrum von Veranstaltungen an, vom traditionellen Liederfest im Hof der Gedenkstätte über Vorträge, Lesenächte bis hin zu Zeitzeugengesprächen mit Menschen, die im Nationalsozialismus Widerstand leisteten oder die Mordmaschinerie Hitlers überlebten. Neben diesen vielfältigen Aktivitäten kommt die historische Forschung aber nicht zu kurz. Es ist dem Friedrich-Ebert-Haus seit der Eröffnung vor 25 Jahren gelungen, sich als lebendiger Lernort zur deutschen Demokratiegeschichte Ort der politischen Bildung zu etablieren.
So trägt unser Haus in Heidelberg wie auch die vier anderen Politikergedenkstiftungen – also für Bismarck, Heuss, Adenauer und Brandt – dazu bei, die Kenntnisse über die Geschichte Deutschlands und Europas im 19. und 20. Jahrhundert zu erweitern und zu vertiefen. In ihren Ausstellungen informieren die Häuser über den Lebensweg, das politische Denken und Wirken sowie das historische Erbe dieser Staatsmänner vor dem Hintergrund der jeweiligen geschichtlichen Epoche informieren. Sie vermitteln das wechselvolle historische Geschehen vom Kaiserreich bis zum wiedervereinigten Deutschland und leisten damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis unserer Gegenwart.
Kann man aus der Geschichte lernen? Nur begrenzt. Mit dem Blick auf die Geschichte kann man erfassen, wie wir sind und wie wir das wurden, was wir heute sind.
Deutschland im 20. Jahrhundert – das ist eine Geschichte von unvorstellbarer Diktatur und heroischem Widerstand, von brachialer Gewalt und unerschrockener Zivilcourage, von Freiheitsdrängen und Kampf um die Demokratie – eine sperrige Geschichte, die aber in Gänze in den Blick, in die Erinnerung, zu nehmen ist.
Historische Aufklärung kann und soll politisches Bewusstsein schaffen. Es gehört zu unserem demokratischen Selbstverständnis, eben nichts zu verdrängen oder zu leugnen, nicht die furchtbaren Verbrechen zu beschönigen oder gar zu vergessen.
Die Erinnerung in der Demokratie, insbesondere in der Deutschen, muss immer diese beiden Seiten im Blick haben, die Freiheits- und Demokratiebewegung, aber auch das Grauen, den Nationalsozialismus und SED-Diktatur. Das eine schließt das andere nicht aus, und darum, da kehre ich zu meinen Anfangsbemerkungen zurück, wäre der 9. November vielleicht der bessere Nationalfeiertag gewesen, umschließt er doch beiden Seiten der deutschen Geschichte.
Meine Damen und Herren, Erinnern heißt nicht, Geschichte zu fixieren. Es geht vielmehr darum, die Gefährdungen der Demokratie, die Mechanismen und Ursachen von Ausgrenzung, Intoleranz und Rassenwahn zu begreifen. Und es geht darum, mit diesem Wissen die Gegenwart seismografisch zu beobachten und in ihr zu handeln. Hannah Arendt, die große jüdische Publizistin, sagte einmal 1959: „Das Höchste, was man erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen, was sich daraus ergibt.“ Das ist allemal ein Grund, dass demokratischen Gesellschaften wie die bundessrepublikanische an die positiven wie an die schrecklichen Seiten der Geschichte erinnern. Wir Deutschen haben hier einen besonderen Auftrag. Die eingangs zitierte Bertelsmann-Studie zeigt überdeutlich die Notwendigkeit hierzu. Einen kleinen Einblick in die bundesdeutsche Erinnerungskultur habe ich geben wollen – ich hoffe, es ist mir gelungen.“
Prof. Dr. Walter Mühlhausen (* 1956); Promotion 1985 in Zeitgeschichte, 1986–2008 stellvertretender Geschäftsführer und seit 2008 Geschäftsführer der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg; Habilitation 2006, seit 2012 apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Universität Darmstadt; Veröffentlichungen vornehmlich über Friedrich Ebert, zur Geschichte der Arbeiterbewegung und zur hessischen Landesgeschichte.
1 Unkorrigiertes Manuskript der Rede auf dem Neujahrsempfang der Stadt Leimen am 25. Januar 2015.
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